Midway between 2000 und 2010 – Wenn die Zeit plötzlich anders läuft

Nach meiner Entscheidung, Kirsten zu verlassen, änderte sich erst mal etwas Seltsames. Der Verlauf der Zeit änderte sich. Sie lief plötzlich schneller. Festzustellen ist das aber nur im Nachhinein, beim Blick in das unbestechliche Tagebuch.

Die Zeit zwischen dem ersten Kennenlernen von Sabine bis zu meiner Entscheidung, Kirsten zu verlassen, kommt mir immer noch ewig lang vor. Dabei waren es nur sehr genau 6 Monate. Warum ist es im Rückblick viel länger gewesen? Vielleicht einfach nur, weil dort so viel geschehen ist? Jede Woche war intensiv. Jede Woche gab es mehrere aufwühlende Ereignisse. Alles lief heimlich unter großer Spannung ab. Das sieht man auch hier im Blog. Über ein Jahr habe ich jetzt gebraucht, um diese 6 Monate zu schildern. Und dabei habe ich schon (um nicht die letzten Leser zu verlieren), vieles einfach weggelassen, was mir persönlich unheimlich wichtig war und ist.

Für die Zeit nach meiner Entscheidung, Kirsten zu verlassen und bis zu meinem endgültigen Auszug sagt mein Gefühl, dass das nur ein bis zwei Wochen waren. Ja, irgendwas kam mir bei der Rückerinnerung immer komisch vor. Ich wusste noch, die Entscheidung lag vor Weihnachten, der endgültige Auszug aber erst nach Kirstens Geburtstag. Komischerweise liegen dazwischen nicht zwei Wochen sondern fast vier Monate.

Mein altes Tagebuch bestätigte dies. Tja, Tagebücher lügen nicht. Die Zeit muss also schneller gelaufen sein. Denn ansonsten würde das ja bedeuten, ich hätte das nicht so schnell durchgezogen, wie ich es von mir erwartet habe. Dann wäre ich ja … ja … langsam? …. zögerlich? Ich doch nicht!

Der erste Schritt ging noch recht schnell. Anfang Januar sagte ich Kirsten, dass es eine andere Frau in meinem Leben gibt. Nein, ich sagte es ihr nicht ins Gesicht. Wieder mal seltsam zwischen uns: Ich sagte es per Brief. Denn zwischen Weihnachten und Neujahr, einer Zeit wo Kirsten und ich viel Zeit zum Reden gehabt hätten, schrieb sie mir mehrere Briefe. Der erste begann mit:

„Reden ist immer so schwierig. Ich kann da meine Gedanken nicht so schnell ordnen. Im Brief ist das einfacher.“

Ok, das war nicht neu. Ähnliches hatte sie zu briefintensiven Studentenzeiten schon geäußert. Aber damals konnten wir reden und die Briefe schienen nur manchmal eine von ihr gewählte nachträgliche Ergänzung zu einem komplexen Thema zu sein. Jetzt waren die Briefe eher eine Verzweiflungstat.

Also nahm ich auf sie Rücksicht und schrieb ihr einen Brief zurück. Darin stand auch, dass es inzwischen eine andere Frau in meinem Leben gäbe und dass ihre Vorschläge daher nicht greifen würden. Auch schrieb ich, dass ich mir ein Leben mit einem gemeinsamen Haushalt nicht mehr vorstellen könne. Wir sollten reden, wie wir als Eltern zum Wohl unserer Kinder mit der Situation umgehen, aber nicht mehr, wie wir die Beziehung retten.

Ja, danach wollte sie wieder reden. Sie bat um einen Spaziergang und nach einem ersten schweigenden Kilometer fragte sie, ob sie diese Frau kennen würde? Ja, sagte ich, es sei Sabine, die Kollegin, die sie aus dem Sommerfest im letzten Jahr kannte.

Dann brach sie ziemlich zusammen. Sie weinte, sie wollte wissen, was passiert war und wollte es dann doch nicht hören. Denn wenn sie eine Antwort auf ihre Frage erhielt, warf sie mir vor, wie ich das alles so kalt und feindselig sagen könnte. Es kam der Vorwurf, ich hätte ihr ja gar keine Chance gegeben. Sie klagte, ich würde sie jetzt aus heiterem Himmel vor vollendete Tatsachen stellen. Es sei doch immer alles gut gewesen. Ich hätte ja nie mit ihr geredet.

Auf meine Einwände, ich hätte doch seit Jahren immer wieder über meine Wünsche geredet und hätte doch immer wieder meine Unzufriedenheit geäußert, erhielt ich eine erstaunliche Antwort:

„Du hast ja nie gesagt, wie wichtig das für dich war. Das war doch alles nicht so schlimm. Wenn ich gewusst hätte, dass die Punkte so problematisch für dich sind, hätte ich mich doch geändert!“

Ich musste an ein kleines Kind denken, welches einfach die Hände vor die Augen hält und sich dann wundert, dass das als Versteck nicht funktioniert. Sie hatte jahrelang die Hände vor die Augen gehalten.

Ja, ich gebe zu. Sagt es ruhig! Ich war immer schon ein miserabler Psychologe. Als Diplomat würde ich reihenweise Kriege auslösen. Denn wenn jemand mir sagt: „Wie meinst Du das denn, das musst Du näher erklären.“ dann höre ich „Wie meinst Du das denn, das musst Du näher erklären.“ Und dann erkläre ich das. Gerne. Auch mehrmals. Auch ausführlich.

Aber ich bin nicht in der Lage, wenn jemand sagt „Wie meinst Du das denn, das musst Du näher erklären“, heraus zu hören „Das will ich nicht.“ oder „Damit bin ich nicht einverstanden.“ oder „Schluss jetzt, ich will nichts mehr davon hören.“

Vielleicht fühle ich mich daher auch hingezogen zur Mathematik (addieren heißt nicht manchmal multiplizieren), zur Naturwissenschaft (was deine Ergebnisse nicht enthalten, kannst Du auch nicht interpretieren) oder zum Programmieren (wenn der Computer dich nicht versteht, gibt er dir wenigstens irgendeine Fehlermeldung. Und sei es eine absolut unverständliche).

Gibt es eigentlich ein Land, in dem die Menschen noch direkter und offener sind als die Deutschen? Dann wandere ich sofort dahin aus.

Kirsten wurde also nach 8 Jahren Gewitterstimmung aus heiterem Himmel getroffen und brauchte Zeit. Ok. Von mir aus könnte sie sich so lange damit beschäftigen, wie sie braucht. Aber sie bat noch, ihr ein paar Tage Zeit zu geben, bis wir es den Kindern sagen würden. Auch dem stimmte ich zu.

Ab dem nächsten Tag fing sie dann an, jede Menge Fragen zu stellen. Ich glaube nicht, dass die alle von ihr waren. Vielleicht hatten ja auch Freundinnen einige zugeliefert. Die Palette war weit: „Wie stellst Du dir das eigentlich vor?“ „Was ist mit der finanziellen Seite?“ (Horch horch! Diese Frage von ihr, wie ungewöhnlich.) „Was ist mit den Kindern?“ „Wo willst Du wohnen?“ „Was ist mit dem Haus?“ „Dem Auto, der Einrichtung?“ Ja, leider war ich auf alle die Fragen schon lange vorbereitet: „Ganz einfach, wir trennen uns und lassen uns scheiden.“ „Geld? Wir sind 6 Personen. Jeder bekommt ein Sechstel von meinem Netto und vom Kindergeld. Du verwaltest die Kinderanteile, bis diese volljährig sind.“ „Mit den Kindern reden wir gemeinsam. Sie wohnen bei dir, außer sie wollen was anderes. Ich sehe sie jedes zweite Wochenende.“ „Ich wohne ab jetzt ganz in meinem Zimmer.“ „Du darfst gerne weiter im Haus wohnen.“ „Auto und Einrichtung kannst Du behalten. Ich habe alles wichtige bereits in meinem Zimmer.“

Auch mit ihren Appellen kam sie nicht weiter: „Du hast ja nie was gesagt, jetzt kannst Du doch nicht plötzlich Schluss machen.“ „Sag mir was ich falsch gemacht habe. Dann versuchen wir es nochmal.“ „Sei nicht unfair, gib mir wenigstens eine Chance.“ Doch wie hatte Gorbatschow einige Jahre zuvor gesagt „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Und so wurde die arme Kirsten bestraft.

Nach kurzer Zeit war ihr aber klar, dass sie im Moment nur einen Punkt hatte, mit dem sie das Ende hinauszögern konnte: Sie wollte immer noch nicht, dass wir es den Kindern sagten. Woche für Woche kam immer wieder der Satz: „Ich bin noch nicht soweit!“ Aber alleine wollte ich es den Kindern auch nicht sagen. Die Kinder sollten durch uns beide vermittelt bekommen, dass wir uns beide weiter um sie kümmern würden und dass es nicht an ihnen lag. Also wartete ich noch. Wartete Wochen, Monate. Derweil wohnte ich am Wochenende weiter bei ihr, schlief im gemeinsamen Ehebett, alles damit die Kinder nichts merkten. Das ging so lang, dass sogar Sabine damit ein Problem bekam. Kein Wunder, dass mein Kopf diese drei Monate einfach aus dem Gedächtnis entfernt hat.

Kirsten kam jedenfalls aus dem Verzweiflungsloch kaum raus. Sie rutschte sogar immer tiefer rein. Zum Glück rieten ihre Freundinnen nach einigen Wochen, zu einem Psychologen zu gehen und der machte ihr wohl schnell klar, dass sie für sich einen Schlussstrich ziehen musste. Bezüglich der Kinder riet er ihr, mit mir zusammen einen richtigen Familientherapeuten zu besuchen. In der Nachbarstadt gäbe es einen guten. Und so saßen wir im März vor diesem Therapeuten und schilderten die Situation. Der Mann war klasse. Er fand genau den richtigen Ansatz:

„Es geht hier nicht um sie. Es geht ausschließlich um die Kinder!“

Er schaute uns an. Ich nickte. Kirsten auch, etwas zögerlich. Dann machte er weiter:

„Kinder können mit vielem klar kommen. Aber nicht mit Unsicherheit und nicht mit ständig wechselnden Situationen. Das schlimmste ist, wenn die Kinder sich Hoffnungen machen, dass die Eltern wieder zusammen kommen. Ich habe den Eindruck, sie gehen sehr sachlich mit ihrer Trennung um und wollen keinen Konflikt vor den Kindern ausführen?“

Wir nickten beide.

„Das ist sehr gut. Versuchen Sie, den ehemaligen Partner gegenüber den Kindern nicht zu kritisieren. Mama ist ein toller Mensch, Papa ist ein toller Mensch. Sie wollen nur nicht mehr zusammen wohnen.  Und machen Sie einen klaren Schnitt. Sagen Sie es den Kindern. Am besten sofort. Spätestens am Wochenende. Sagen sie, dass die Entscheidung steht und nicht irgendwie noch verhandelt wird. Sagen sie nichts von ‚Trennung auf Probe‘ oder ähnlichem. Und danach sollten Sie … „

Er wandte sich an mich:

„… auch wirklich sofort ausgezogen sein. Da sie ja schon ein Zimmer haben, müsste das ja gehen.“

Dann wieder an uns beide:

„Keine weiteren Übernachtungen von Vater und Mutter in der selben Wohnung! Auf keinen Fall gemeinsame Urlaube! Das weckt nur Hoffnungen bei den Kindern. Wenn es mal wegen eines Wetterereignisses oder einer Autopanne notwendig sein sollte, dass der Vater auf der Luftmatratze im Kinderzimmer schläft, ist das ok. Aber nur in einem für die Kinder nachvollziehbaren Notfall. Sonst nicht.“

Er schaute uns an.

„Kriegen sie das hin?“

Ich nickte wieder. Kirsten auch. Der Ansprache, dass das Wohl der Kinder und nicht ihr Wohl wichtig war,  konnte sie sich nicht entziehen.

Dann waren wir wieder draußen. Ziemlich gebügelt. Auf dem Rückweg schlug ich vor, es den Kindern Samstag nach dem Aufstehen zu sagen. Kirsten nickte nur.

Samstag holte ich die Kinder ins Wohnzimmer. Kirsten saß auf dem Sofa. War den Tränen nah. Die Mädchen sahen sofort, dass was Schlimmes los war und setzten sich links und rechts tröstend zur Mutter. Auch der Kleine merkte etwas und kuschelte sich dazu. Unser Ältester stand ratlos daneben. „Sag Du es ihnen, ich kann nicht.“ Mehr sagte Kirsten nicht. Also musste ich es doch ganz alleine tun. Ich sagte, dass Mama und Papa sich nicht mehr genügend mochten, um zusammen zu wohnen. Wir würden uns trennen. Ich sagte, dass wir uns nicht böse sind und wir beide weiter für sie sorgen würden. Ich sagte, dass wir beide sie sehr liebten und dass das auch so bliebe, wenn die Eltern sich trennen. Ich sagte noch einiges. Kirsten hatte beim ersten Satz angefangen zu weinen und die Mädchen weinten mit. Der Jüngste versuchte aus Solidarität mitzuweinen, aber er schaute mich schelmisch an. Ihm war nicht klar, was da passierte. Der Älteste, mit seinen 14 Jahren seit einem Jahr schon sehr still geworden in seiner Pubertät, sagte nichts, weinte nicht.

Es war der schwerste Moment meines Lebens.

Etwas blieb ich noch um zu sehen, ob sie klar kamen. Nachdem ich die schlechte Nachricht verkündet hatte, konnte auch Kirsten einige Worte finden. Zum Glück hielt sie sich an den Rat des Therapeuten. Wir frühstückten noch gemeinsam. Das schaffte wieder ein wenig Normalität. Zum Abschluss kuschelte ich noch ein wenig mit den drei jüngeren. Ging nochmal zum Ältesten und setzte mich ein wenig schweigend neben ihn. Sagte allen, dass ich sie anrufe und dass wir am nächsten Wochenende was zusammen machen würden. Dann verließ ich das Haus.

Übernachtet habe ich seither dort nicht mehr. Seit fast 15 Jahren nicht.

15 Kommentare zu “Midway between 2000 und 2010 – Wenn die Zeit plötzlich anders läuft

  1. Eindrückliche Schilderung!
    Und ich war schon immer der Meinung, dass man Kinder nicht unterschätzen soll. Die können vieles nicht benennen, aber Unsicherheiten spüren die sofort. Und wer ist mit Klarheiten nicht schon immer besser zurecht gekommen als mit Unklarheiten!

    Wie befreiend war da eigentlich für Dich?

    Das dürfte für die nächsten Wochen mein Spruch in vielen Lagen des Lebens sein: „Wenn der Computer dich nicht versteht, gibt er dir wenigstens irgendeine Fehlermeldung. Und sei es eine absolut unverständliche.“

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    • Ja viel später als sie erwachsen waren, sagte mir meine Tochter, das sich die Geschwister vor der Trennung oft gefragt haben, warum ihre Eltern sich nicht wie andere in den Arm nehmen etc. Mit einer Trennung hatten sie aber wohl nicht gerechnet. In der Beziehung ein Nachteil, wenn die Probleme der Eltern im Stillen ablaufen und die Kinder Diskussionen und Streit nie mitbekommen.

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      • Ja gut wenn jmd. Klare Sache macht wenn mal was entschieden ist. Nur deine innere Trennung zog sich schon Jahre dahin also war es dann folgerichtig schnell und auch nur darum weil eine für Dich bessere Frau da war und Dich wollte…Männer Trennen sich 90 Prozent nur wg.anderer Frau….ansonsten sind sie bequem und bleiben…und leiden dahin still und denken oder machen Sex mit andren Frauen

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    • Gute Frage. Habe ich mich auch gefragt aber nie eine Antwort gefunden. Verdrängung? Eine seltsame Art von Ich-Bezogenheit und fehlender Empathie für die Leiden anderer? Wäre auch seltsam, besonders für eine Krankenschwester wie Kirsten, die ihren Beruf liebt, weil sie da anderen helfen kann.
      Ich habe keine Ahnung.

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      • Vielleicht hat sie ja ihre gesamte Empathie bereits in der Arbeit verbrannt und der Rest hat nur noch für die Kinder gereicht? Wie dem auch sei, in dem Fall gilt wohl „lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“

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    • dergrafvonborg, ich hätte dir für diesen Kommentar gerne 10 Likes gegeben. Wie oft wir uns damals den Kopf darüber zerbrochen haben! Da waren ziemlich viele, für mich kaum vorstellbare Sonderbarkeiten. Z.B. auch die oben nur kurz erwähnte Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Ein Paar schreibt sich solche Briefe, gestaltet aber den Alltag, als wäre nichts gewesen.

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      • Zwei Leben auf völlig verschiedenen Bahnen. Offenbar ist eine Beziehung für sie etwas völlig anderes und Kompromisse hatten immer eine ordentliche Schlagseite zu ihren Gunsten. Machtspiele funktionieren halt nur, wenn beide Seiten mitspielen.

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  2. dergrafvonborg, ich hätte dir für diesen Kommentar gerne 10 Likes gegeben. Wie oft wir uns damals den Kopf darüber zerbrochen haben! Da waren ziemlich viele, für mich kaum vorstellbare Sonderbarkeiten. Z.B. auch die oben nur kurz erwähnte Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Ein Paar schreibt sich solche Briefe, gestaltet aber den Alltag, als wäre nichts gewesen.

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